Belzig

Bilder aus Belzigs und Sandbergs
Vergangenheit und Gegenwart

von Paul Quade

erstmals veröffentlicht 1903 ergänzt 1921
Buch 1 zum Jubiläum 997 - 1997
Die Straßen der Stadt. Die Zahl und Beschäftigung der Bewohner.
Einige "Olle Kamellen".
Nach der Zählung vom 1. Dezember 1900 gehörten zum Stadtgebiete 395 Wohnhäuser. (Seitdem sind wieder einige hinzugekommen.) Diese sind auf folgende Straßen, Gassen und Plätze verteilt: Die Große und Kleine Wiesenburger Straße, die Kirchstraße, die Brandenburger und Sandberger Straße, die Baderstraße, die Wallstraße und Wallgasse, die Hirten? und Töpfergasse, die Mauerstraße, Am Stadtgraben, die Feldstraße, die Gliener, Hagelberger und Lübnitzer Straße, die von Tschirschky?, Bismarck?und Steinstraße, die Niemegker Straße, die Brunnenstraße, die Brandenburger Chaussee mit der Kirchhofstraße, der Markt und der Kirchplatz. Außerdem gibt es noch zwei namenlose Gassen, von denen die eine von der Kleinen Wiesenburger Str. zur Kirchstr., die andere von der Sandberger zur Mauerstr. führt. Wallstraße und Wallgasse bildeten früher den Karnipp. Der durch sein Alter ehrwürdige Name wurde leider 1902 abgeschafft. Eine Wallstraße besitzen viele Städte, einen Karnipp hatte nur Belzig und noch eine Stadt im westlichen Deutschland. Auch an dem Turnplatze, dem Papendorfer und Weitzgrunder Wege haben sich Leute angesiedelt. Zu Belzig gehören ferner die westliche Seite der Viktoriastraße mit dem Habedankschen Grundstücke und dem Molkereigebäude, die Häuser Nr.10,16,17 in der Berliner Straße und Nr. 10,11,13 am Freigaben sowie die beiden Wohnhäuser auf der Wenddoche in der Nähe des Forsthauses Rotebach. Während früher sämtliche Häuser in fortlaufender Reihe von 1 bis 395 gezählt wurden, bekam 1902 jede Straße ihre eigenen Hausnummern. Diese für den Verkehr wichtige Einrichtung hatte Sandberg schon ein Jahr vorher gemacht. Am 1. Dezember 1900 zählte Belzig 648 gewöhnliche Haushaltungen und 66 einzeln stehende Leute. Die Gesamtzahl der Einwohner betrug 2895 (1428 männliche und 1467 weibliche). Die Bevölkerung hatte von 1895 bis 1900 um 63 Personen = 2,22 % zugenommen. Unter den Städten des Kreises hat Belzig die meisten selbständigen Handwerker.
Darunter sind in Belzig: 29 Schuhmacher, 14 Schneider, 12 Tischler, 8 Bäcker, 2 Bäcker und Konditoren, 10 Schlächter, 6 Gerber, 4 Gärtner, 5 Töpfer, 9 Weber, 5 Pantoffelmacher, 5 Zigarrenmacher, 4 Uhrmacher, 4 Hut? und Mützenmacher, 2 Dachdecker, 2 Drechsler, 2 Strumpfwirker, 4 Schlosser, 3 Buchbinder , 3 Klempner, 1 Handschuhmacher, 4 Seiler, 2 Korbmacher, 1 Schornsteinfeger, 1 Kupferschmied, 4 Böttcher, 5 Sattler, 2 Schmiede, 5 Stellmacher, 3 Barbiere, 1 Bürstenbinder, 1 Buchdrucker, 6 Maler, 4 Müller, 1 Messerschmied, 1 Brunnenmacher, 1 Nagelschmied, 1 Kürschner, 1 Dammsetzer, 1 Seifensieder, 2 Glaser, 1 Photograph, 1 Schleifer, 1 Peitschenmacher, 2 Maurermeister, 2 Ziegeleibesitzer. (Die Liste der Handwerker ist 1902 durch eine nichtamtliche Zählung entstanden. Auf unbedingte Genauigkeit macht sie keinen Anspruch.) Mit Dampfkraft arbeiten 2 Betriebe: 1 Tischlerei und 1 Pantoffelfabrik. Auch eine Stärkefabrik ist vorhanden.
Das einst blühende Gewerbe der Tuchmacher, das 1691 30, 1730 25 und 1835 noch 7 Meister ernährte, ist ganz ausgestorben. Die Nadler und Beutler ? letztere verfertigten die beliebten Lederhosen, auch Geldbeutel und Handschuhe ?, die Gelbschmiede, die Mörser und Plätten, die Zeugschmiede, die Sensen, Sägen usw. arbeiteten, sind dem jüngeren Geschlechte kaum noch dem Namen nach bekannt. Das Brauereigewerbe hat nur noch 3 Betriebe und ist dem Absterben nahe, da das Lagerbier sich in Stadt und Land immer mehr einbürgert und das braune, malzreiche Getränk der Väter verdrängt. Es bleibt aber trotz des Niederganges der heimischen Brauerei auch heute in Belzig und Sandberg kein Durst ungestillt. Dafür sorgen die Gräflich?Fürstensteinsche sowie verschiedene andere auswärtige Brauereien, von denen die Werdersche und die Patzenhofersche in Berlin hier Niederlagen in eigenen Gebäuden haben. Wenn der wißbegierige Zecher an einem Tage erforschen möchte, wo in unseren beiden Orten das beste Bier verschenkt wird, dann müßte er ein sehr trinkfester Mann sein, wenn er nach solcher Bierreise ungefährdet nach Hause zurückkehren wollte, denn er hätte nicht weniger als 20 Schankstätten zu prüfen. In der Zeit vom 15. August bis zum 15. September zogen die Belziger gern zu Gensicke hinaus, der dann auf Schwanebecker Waldgebiet seinen Bienenstand hatte und zugleich Schankwirt war. Dann war dort auf dem freien Platze in der Heide reges Leben. Unter den Zelten saßen Frauen und genossen den Kaffee, den sie selbst gekocht; die Männer tranken Bier, und die Kinder tummelten sich beim Spiele herum. Der Ort war dann Belzigs Hasenheide. Am Abend ging's im Zuge unter Gesang zur Stadt zurück. Wenn der Mond nicht schien, leuchteten Papierlaternen, die die Kinder trugen.
Die gute Bahnverbindung mit Berlin benutzt mancher Belziger, um in der Hauptstadt einzukaufen. Er hat es aber gar nicht nötig, denn in den 66 Kaufläden seiner Stadt (die Läden der Bäcker und Schlächter sind nicht eingerechnet) kann er alles bekommen, was zur Leibesnahrung und Notdurft gehört und noch etwas mehr. Leider denkt mancher von dem, was ihm im Wohnort geboten wird: "Es ist nicht weit her ", und kauft lieber bei Wertheim und Tietz. (Diese Redensart war schon im 16.Jahrhundert in Deutschland gebräuchlich. "Es ist nicht weit her", denken heute auch viele von ihrer Muttersprache und beziehen ihre Ausdrücke aus fremden Ländern.) Vom Handel leben außerdem, ohne einen Kaufladen zu besitzen, eine Menge Leute. Darunter sind auch viele vom zarten Geschlechte, die sogenannten Botenfrauen, denen der arme Ziehhund beim Warenaustausche hilft.
Belzig ist trotz der vielen Handwerker eine rechte Ackerstadt, denn außer den Ackerbürgern besitzen sehr viele Handwerker und Arbeiter ein Stück Land, eigenes oder gepachtetes, worauf sie Kartoffeln und Brotkorn bauen. Die Bestellung des Ackers wird einem Pferdebesitzer übertragen. Nach der Zählung von 1900 gab es damals in Belzig 98 Haushaltungen mit Landwirtschaft und 398, die Vieh besaßen. Es waren vorhanden: 147 Pferde, 190 Stück Rindvieh, 9 Schafe, 864 Schweine, 263 Ziegen, 1909 Stück Federvieh, 137 Bienenstöcke und 10.445 Obstbäume. Das Ackergebiet Belzigs zerfällt in sechs Feldmarken: Stadtmark, Grunddoche, Schönefeld, Papendorf, Wenddoche, Burgsdorf?Platte.
Zur Zeit der Kartoffelernte ist auf den Feldern ein reges Treiben. Jung und alt buddelt und sammelt dort Kartoffeln. Bei schönem Wetter ist es ein Vergnügen. Das trockene Kraut wird von den größeren Kindern zusammengetragen und angezündet und die frische Frucht im Feuer gebraten. Die Kleinen, die noch nicht mitarbeiten können, spielen vergnügt auf den abgeernteten Stellen. In dem Kinderwagen ruht auf Kissen das Kleinste und schreit oder schläft nach Herzenslust. Zur Mittag? und Vesperzeit sitzen die Familienglieder zusammen und verzehren, was Mutter von Hause gebracht hat. Das schmeckt prächtig nach der Arbeit in der frischen, herbstlichen Luft. Am Wege ruht träumerisch der Ziehhund. Er nimmt an der allgemeinen Fröhlichkeit nicht teil, denn er denkt der Stunde, da er den mit Kartoffelsäcken und Kindern wohlbepackten Wagen an der Seite seines Herrn nach Hause ziehen muß, eine Last, die noch schwerer ist als der Dünger, den er vor Monaten auf den Acker schleppen mußte. Hinter vielen Häusern der Hauptstraßen liegen Gärten. Das sind die Grundstücke, wo sich einst die brauberechtigten Bürger, die Patrizier der Stadt, niedergelassen hatten. Die kleinen Leute mußten sich dort ansiedeln, wo gerade noch Platz für ein Haus und einen Hof übrig war. In neuerer Zeit haben die Besitzer solcher Grundstücke außerhalb der Stadt Gärten angelegt, die fleißig bearbeitet werden und die aufgewandte Mühe reichlich lohnen. Doch läßt die Pflege des Obstbaumes noch manches zu wünschen übrig. Vor Zeiten wurde auch auf Belziger Gebiet Weinbau betrieben, und die ehrsamen Bürger tranken neben ihrem landbekannten Biere auch Wein, der am Orte selbst gekeltert worden war. Noch heute trägt ein Hügel links von der Lüsser Straße den Namen "Superndents Weinberg". Vor sechzig Jahren fanden sich darauf noch Reben, die Trauben trugen. (Nach einer Mitteilung des Stadtältesten W. Görisch, 1831 bis 1913).
Auch erinnert sich noch manch alter Belziger des Hauses, worin einst die Weinpresse war. Es stand an dem Wege, der sich von der Wittenberger Straße abzweigt und hinter Völkers Landhause zur Bahnhofstraße in Sandberg führt. Darum hieß der Berg hinter dem alten Gebäude des Hospitals zum Heiligen Geist der Presseberg. Auch in dem alten Eckhause Nr. 27 links am Ausgange der Bahnhofgasse war einst eine Kelter. Eine dieser Pressen war vielleicht die Kurfürstliche, die im alten Manuale des Küsters erwähnt wird.
Unser Klima ist dem Weinbau nicht günstig, noch weniger aber ist es für die Zucht der Seidenraupe geeignet. Und doch hatte vor etwa 50 Jahren ein Mann, namens Rexius, den Mut, diesen Erwerbszweig südlicher Länder bei uns einzubürgern. Auf einem Acker rechts vom Lübnitzer Wege, vor dem Sammelbecken unserer Wasserleitung, legte er eine Pflanzung von Maulbeerbäumen an und erbaute dort auch das Haus für die Raupen. Nach einiger Zeit verkaufte er sein Anwesen an einen gewissen Steckert. Dieser gab die gewinnlose Raupenzucht auf und errichtete inmitten der Maulbeerbäumchen ein Kaffeehaus. Eine Zeitlang pilgerten die Belziger dorthin, um sich nach dem Spaziergange durch eine Tasse Mokka zu stärken. Steckert zog dann nach Berlin, und das Haus wurde in den folgenden Jahren von armen Leuten bewohnt, die nur eine geringe Miete zahlten. Zuletzt stand es ganz leer, da die Einsamkeit dort keinem behagen mochte, und hieß nun im Volksmund "Steckerts Villa" oder "Der graue Illing". Es verfiel, doch hatte es zu Anfang der achtziger Jahre noch ein Dach, Türen und Fenster. Allmählich schwand es dahin, wie ein Eisblock an der Sonne schmilzt, und eines Tages war auch der letzte Stein verschwunden und zugleich auch der Wert der Hypothek von einigen 20 000 Mark, die auf dem Grundstück gelastet hatte. Ein merkwürdiges Beispiel, wie sich ein Haus ohne sichtbares Zutun von Menschenhand in nichts verwandeln kann. Die Stadt kaufte den Acker für eine geringe Summe und ließ ihn aufforsten.
Von den 7 Mühlen in Belzig gehören die drei an der Brandenburger Chaussee liegenden sowie die Obermühle zum Stadtgebiete. Davon werden Ölschlägers und Hannemanns Mühlen vom Springbache getrieben, der aus der Kirchheide kommt. Die Obermühle erhält ihr Wasser aus einem Teiche, worin sich mehrere Quellen sammeln. In ihrer Nähe ist eine jetzt erschöpfte Mergelgrube, worin vor Jahren gewaltige Hirschgeweihe und Knochen ausgestorbener Tierarten gefunden wurden, die das Märkische Museum besitzt.
Alle anderen 4 Mühlen, von denen die Hinter?, und Schloßmühle zu Sandberg gehören, bekommen ihre Wasserkraft vom Belziger (Mühl?) Bache. Die an der Brandenburger Chaussee gelegenen und die Mittelmühle waren einst Papiermühlen.
Den Besuchern unserer Orte gewähren 7 Hotels und Gasthöfe freundliche Aufnahme. (Die Herberge für Handwerksburschen ist nicht eingerechnet.) Vor dem Wiesenburger Tore bieten "der Adler" und "der Löwe" ihre Gastfreundschaft an. Wer sich ihnen nicht anvertrauen will, dem leuchtet in der Gr. Wiesenburger Straße der "Goldene Stern" entgegen, Obdach und Atzung verheißend. Dort fand schon vor vielen Jahren Fritz Reuter Unterkunft, als er von Gendarmen nach der Festung Magdeburg geführt wurde. Am 1. Osterfeiertage 1837 kam er, wie er in seinem Buche "Ut mine Festungstid" erzählt, "in de lütte Stadt B." Als er dem Herrn Kreissekretär vorgestellt worden war, brachten ihn seine treuen Reisegefährten in den "Goldenen Stern". "Nüdliche Stratenjung'ns" gaben ihm das Geleit. Der Wirt Schür ?Reuter schreibt Stier ? ließ den Gendarmen in einem anderen Zimmer Bier vorsetzen und bewirtete den Dichter im Kreise seiner Familie. Dieses Abendbrot am runden Tische, wobei er Tee trank und "dat gaude Mäten" ? die Tochter des Hauses ? ihm "bi de Mahltid de Tüften afpöllte", blieb ihm immer in freundlicher Erinnerung. Der alte runde Tisch, um den sich allabendlich die Stammgäste versammeln, um beim edlen Gerstensafte über Staats? und gelehrte Sachen zu reden, ist vieleicht noch derselbe, an dem der große Dichter seine "Tüften" verzehrte.
In den achtziger Jahren wettete der damalige Besitzer des Gasthauses, Louis Wohlhaupt, mit einem auswärtigen Gaste um 2000 Mark, daß er innerhalb 2 Jahren die Bibel mit Ausnahme der Apokryphen abschreiben wollte, ohne dabei sein Geschäft zu vernachlässigen. Er gewann die seltsame Wette glänzend. Der Vorfall war durch die Zeitungen bekannt geworden und gab dem Oberhofprediger Kögel, der bei Gelegenheit der General?Kirchenvisitation im Oktober 1888 im "Stern" wohnte, Anlaß zu der Scherzfrage, ob sein Wirt, der berühmte Bibelabschreiber, auch wüßte, daß sein Gasthof schon im Evangelium erwähnt werde. Der Gefragte mußte bekennen, daß er in der Bibel nichts über sein Hotel gelesen habe. Da sagte D. Kögel lächelnd: "Und doch steht Matth. 2,10: Da sie den Stern sahen, wurden sie hocherfreut."
Zu den ältesten Gasthöfen gehört auch "die Tanne" in Sandberg. Der "Rosenkranz" ebendaselbst, der jetzt als Arbeiterwohnung dient, war früher auch ein vielbesuchter Gasthof. Da außer den Beamten der Kreisverwaltung, der Post, des Amtsgerichts, des Steuer? und Katasteramtes und der Gendarmerie, zwei Rechtsanwälte, drei Ärzte, zwei Tierärzte und mehrere verheiratete Lehrer ohne Dienstwohnung in der Stadt leben, so sind die Wohnungen ziemlich teuer. Solche von 4 und mehr Zimmern haben zum Teil einen Mietspreis von 400 bis 600 Mark. Auch die Lebensmittel sind nicht so billig, wie man es in kleinen Landstädten gewohnt ist. Dazu trägt die Nähe Berlins und der starke Verbrauch der Lungenheilstätte auch viel bei.