Rabe Krah Helga und Günter Kästner

Der Rabe Krah

Pensionsgast in der Hirschtränke von Verlorenwasser (seit 1993)


Gastfreundschaft

Wenn die Familie Zuwachs erhält, ist alles anders als vorher. Davon können die Wirtsleute der "Hirschtränke" in Verlorenwasser ein Lied singen.
Einzug hielt 1993 ein neuer Bestimmer - ein Kolkrabe oder einfach "Krah" genannt. Bernd Schulze hatte ihn an dem Tag in seine Obhut genommen, als er mit anderen Waldarbeitern den Auftrag hatte, Bäume zu pflanzen. Der kleine schwarze Kerl mit dem glänzenden Gefieder hatte ihnen ein so jämmerliches "Krah" zugerufen und das pausenlos, so dass es nur bedeuten konnte "Hunger!!! " Und zwar großen Hunger. Sie legten ihm in der Frühstückspause ein paar Brocken vom Frühstücksbrot vor, er nahm die Gabe dankbar an. Dann blieb er in ihrer Nähe, machte keine Anstalten, wieder ins Nest zu fliegen, die "Rabenmutter" ließ sich ohnehin nicht mehr sehen. Sie war halt doch das, was der Name schon sagt. Vielleicht tat sie es aus gutem Grund, damit der Sprössling allein zurechtkommen sollte. Kam er aber nicht. Hier am Boden hätte er wohl nicht überlebt, wie das Schicksal des Krah-Bruders beweist, den sie ein paar Tage später leblos in Nestnähe gefunden hatten.
Bernd setzte den Bettler behutsam in den Kofferraum und sperrte ihn zu Hause erst einmal in den Stall. Er brauchte zuerst einmal Zeit, um mit Eva zu besprechen, ob sie den Nachwuchs für ein paar Tage versorgen würde. Sicher sucht er, wenn er auf eigenen Füßen steht, doch das Weite.

Familienzuwachs

In der "Hirschtränke" in Verlorenwasser sorgten sich die neuen Eltern Eva und Bernd um den kleinen Kerl, der gar nicht wählerisch war, er fraß eigentlich alles, was gerade zur Hand war, Brötchen und Brot, Katzenfutter und alles aus dem Hundenapf. Er nahm den geräumigen Käfig an, den Bernd ihm gebaut hatte, und weckte künftig die Bewohner des kleinen Ortsteiles Verlorenwasser mit seinem Krah. Noch immer klopft er ans Schlafzimmerfenster, wenn er bei Sonnenaufgang meint, die Schulzes könnten nun endlich aufstehen. Dabei hätten sie gerade mal etwas länger schlafen können.
Raben sind unübertroffen im komplexen Denkvermögen unter den Vögeln, so schreiben es die Wissenschaftler. Tiervater Brehm wusste nur, dass es sehr scheue Vögel sind, die den Menschen meiden. Aber das hat sich gehörig geändert. Vor mehr als 100 Jahren wurden die Brutpaare in Deutschland immer weniger, in Hessen hatte man 75 Jahre kein brütendes Paar beobachtet, in Rheinland-Pfalz waren es nur 50 Jahre. Aus verschiedenen Gründen hatten die Menschen ihn auch gejagt. Man sprach davon, dass Raben nur noch in der Sagenwelt vorkommen bei Wilhelm Busch oder viel früher bei den Göttern. In der Literatur war der Rabe jederzeit präsent als Totenrufer oder Kriegsverkünder, als Rächer oder Helfer. Seit über 20 Jahren kommt er wieder mächtig ins Gespräch und zuweilen wird seinetwegen sogar ein Kongress gestartet, in dem es nur um ihn geht, und zwar international. Der Kolkrabe hat sich in Deutschland wieder ausgebreitet, heißt es da und alle freuen sich. Es soll allerdings auch schon wieder Menschen geben, die ihm Böses nachsagen, zum Beispiel er würde Nutztiere töten wie Rinder und Schafe. Aber das sei maßlos übertrieben, meint Krah.
Unser Krah lebt zunächst recht zufrieden mit den Hausbewohnern und Nachbarn. Wer ihn von den Fremden übersieht, ihn nicht anspricht und ihm kein Futter zuwirft, an dem geht er achtlos vorüber, er lässt ihn sozusagen links liegen oder schaut von oben auf ihn herab. Ein müdes "Krah" wäre die einzige Reaktion, die er sich abringt. Spricht ihn einer im Biergarten freundlich an, so kann es vorkommen, dass er sich ihm heimlich nähert, auch mal in die Schuhsole zwickt, was bedeuten soll: "Lass mich doch in Ruhe." Aber ansonsten ist er total ungefährlich.
Sitzt der neue Freund mit anderen im Gespräch vertieft am Tisch, nähert sich Krah von unten. Wenn die Bank oder der Stuhl eine Ritze hat, zwickt er auch mal in die Weichteile, aber nicht mit ernsten Absichten, das heißt einfach nur: "Beschäftige dich doch bitte wieder mit mir, du freundlicher Mensch."